Brief vom 11. Mai 1756, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 11. Mai 1756

Werthester Herr und Freünd.

Ich bin für eine Zeit lang Wittwer, da meine Frau nach Leipzig gereißt um ihre Schwester zu besuchen. Da ich jezo mit zwey Kindern ganz alleine bin, so scheinet mir mein Kopf eben so leer zu seyn, als das Haus. Deßwegen hätte ich gerne länger aufgeschoben Ihnen zu schreiben, wenn ich nicht fürchtete die Meßgelegenheit zu versäumen. Ich habe aber in der That niemalen weniger Lust oder Geschike dazu gehabt. Es geht mit meinen Subscriptionen zu dem bekannten Vorhaben sehr langsam. Ich hatte den Hrn. Noltenius gebeten, mir das Blatt der Ankündigung, das in seinem Journal steht besonders abdruken zu laßen. Er versprach es und hat es auch wie ich glaube gethan, ist aber darüber weggereiset, also warte ich noch darauf. Acht bis 10 Subscribenten sind mir schon gewiß, aber ich erwarte ihrer weit mehr, wenn ich nur erst den Plan werde herumgeschikt haben. Diese Art gefällt hier jedermann wol.

Der Hauptverfaßer der Briefe über den Zustand der Schönen Wißenschaften ist Nicolai der Buchführer, ein Bruder des elenden Profeßors; eben der, welcher die Verleümdungen gegen Milton in Deütschland entdekt hat; Ein ziemlich tükischer Mensch. Hernach hat einer Namens Patzke, der Verfaßer des Trauerspiels Virginia, auch verschiedenes darin gemacht. Ihre Critiken über den Hermann habe noch nicht wieder erhalten können. Leßing ist in Leipzig und hat seid 2 Monaten immer geschrieben, daß er bald hieher kommen würde, daher ich ihn immer erwartet um die Sachen die hier unter seinen zurükgelaßenen Schrifften liegen, wieder zufodern. Ich schike Ihnen unter anderm auch Fabeln, welche vermuthlich Gleimen zum Verfaßer haben ungeachtet er gar nicht will dafür gehalten seyn –

Ewald, der Verfaßer der Epigrammen ist Auditeur eines Regiments in Potsdam, der Vertraute des Hrn. v. Kleist . Ein Mann aus dem ich bis auf diese Stunde nichts zu machen weis. Kleist selbst fängt an seine eigene Poesie für nichts zu halten. Potsdam ist ein Ort, wo man der Welt und alles deßen, was dazu gehört überdrüßig wird. Wäre Kleist nur an einem andern Orte, so würde er ein ganz andrer Mensch seyn. Allein so ist er auf der einen Seite Mitten unter einem Hauffen sehr ruchloser und viehischer Menschen und auf der andern Seite Mitten in der Sclaverey. Wie soll einer da gut bleiben? Kleist ist würklich so gut, als man in seinen Umständen seyn kann.

Sie müßten selbst einige Jahre hier gewesen seyn um zu begreiffen, wie sehr schweer es ist, daß der gute Geschmak in Absicht auf den Verstand und Wille aufkomme. Ich fühle es selbst an mir, wie sehr Land und Sitten auf meinen Geist und Gemüthe einfließen. Ich habe hundert gute Sachen vor und richte keine aus. Jezo habe ich mir aber vorgenommen mich ein Jahr lang gleichsam zu verschließen um das Dictionaire des beaux arts zu Stande zu bringen. Ich bin sehr sicher, daß es dem guten Geschmak einen kleinen Ruk geben wird. Ich wende meine äußerste Bemühung an, alles so einzurichten, daß jeder davon wird Nuzen haben können. Bis jezo ist die Musik die einzige schöne Wißenschaft, die in Deütschland würklich mit Eyfer getrieben wird, alles andre liegt matt.

Nun mehr sind Sie selber im Stande zu urtheilen, was für einen Nachbaren sie an Hrn. Escher haben. Der Hr. Dr. Ott wird Ihnen sagen, ob es meine Schuld ist oder nicht, daß er nicht ein mehr, als bürgerlicher Nachbar ist. Die Hrn. Rahn und Meyer führen sich hier gut auf. Sie kommen meist Täglich zu mir um sich Grundsäze der Philosophie erklären zu laßen. Aber ich wünschte, daß sie es weniger auf mich und mehr, auf ihren eigenen Fleiß ankommen ließen. Wenn ich nicht so sehr viel Achtung für ihre Empfehlung und so viel Hochachtung für den Hrn. RHr. Rahn hätte, so würde ich mich begnügen ihnen zu sagen studirt und leset selbst und denkt den Sachen nach. Es ist eine überaus beschwerliche und meistentheils vergebliche Sache den Geschmak und die Liebe zur Wahrheit Gemüthern einzupflanzen, die von selbst keine große Empfindung dafür haben. Die Erziehung wird gar zu sehr versäumt, und sehr ofte sind junge Leüthe von 20 Jahren in allem Frömde, was nicht in die Bemühungen ganz niedriger Schulen einschlägt. Ich habe diesen beyden jungen Hrn. angerathen die Lectionen des Hrn. Ramlers über die Grundsäze der Poesie und Beredsamkeit zu besuchen, und sie thun es: Ich hoffe es wird nicht ohne Nuzen seyn.

Die Übersezung der Thomsonischen Trauerspiele sind von einer Gesell- schafft guter Leuthe in dem Schwedischen Pommern. Solche Stükke aber werden die läppischen Stükke unsrer meisten deütschen Schauspieler nicht vertreiben.

Liegen Sie doch Hrn. Wieland an, daß er ein kleines Werkgen verfertiget, darin er zeiget wie ein junger Mensch sich zu reisen in frömde Länder zu Hause vorbereiten soll und, wie er sich die Reise selbst soll zu nuze machen. Dies könnte insonderheit bey Ihnen, wo meist alle junge Leüthe reisen, von großem Nuzen seyn. Grüßen Sie diesen rechtschaffenen Jüngling von mir. Ich kann ihm jezo nicht schreiben, aber ich warte mit Schmerzen auf die Zeit da ich ihm öfters zu schreiben gedenke.

Von Klopstoken höre ich gar nichts mehr. Ohne Zweifel wißen Sie mehr von ihm als ich, ob ich ihm gleich hundert Meilen näher bin. Ich verbleibe mit immer neüer Freündschafft

Ihr ergebenster
Sulzer.

den 11 May 56.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13a. – E: Anonym Über Friedrich den Großen I 1807, S. 355 f. (Auszug).

Einschluss und mit gleicher Sendung

[J. W. L. Gleim], Fabeln, 1756.

Eigenhändige Korrekturen

Stükke
DingeStükke

Stellenkommentar

meine Frau nach Leipzig
Nähere Auskunft über den Aufenthalt gibt ein Brief Wilhelmine Keusenhoffs aus Leipzig vom 10. Mai 1756 (Freies Deutsches Hochstift, Hs 3021). Demnach traf sie u. a. Gellert, besuchte mit ihm eine Aufführung von Lessings Miß Sara Sampson und ging mit ihm in »Apels Garten« spazieren.
darüber weggereiset
Vgl. Ludwig Samuel Noltenius an Breitinger, 5. Oktober 1756: »Ich komme diesen Augenblik erst von einer Reise aus Breslau zurük, wohin man mich hatte kommen lassen um mir eine Prediger Stelle anzutragen, die ich aller Wahrscheinlichkeit nach, annehmen werde.« (ZB, Ms Bodmer 22.16).
einer Namens Patzke
Der Prediger und Schriftsteller Johann Samuel Patzke.
vermuthlich Gleimen zum Verfaßer
Der Verfasser der Fabeln war wie vermutet Gleim.
jezo ist die Musik die einzige schöne Wißenschaft
Vgl. Gerhard Bedeutung von Sulzers »Allgemeiner Theorie der Schönen Künste« für die Musikästhetik des ausgehenden 18. Jahrhunderts 1996.
Lectionen des Hrn. Ramlers
Als Professor für Philosphie an der Schule des Kadettencorps hielt Ramler auch Vorlesungen über Poesie und Beredsamkeit.
Übersezung der Thomsonischen Trauerspiele
Des Herrn Jacob Thomson sämtliche Trauerspiele. Aus dem Englischen übersetzt. Mit einer Vorrede von Gotthold Ephraim Leßing, 1756. In Lessings Vorrede heißt es über die Übersetzung: »Sie hat verschiedene Urheber«. Beteiligt war vermutlich Johann Heinrich Schlegel, der auch später Trauerspiele Thomsons übersetzte.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann