Brief von Oktober 1755, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: Oktober 1755

Mein werthester Herr und Freünd.

Ich war eben im Begriff an Sie zu schreiben, als ich das Päkgen mit 2 Exempl. von der gefallenen Zilla ohne Brief von Ihnen erhielt. Ich konnte nicht anders, als die Feder sogleich wieder niederlegen um ganz frey der unwiederstehlichen Begierde nachzuhängen, womit ich ihre Schrifften lese. Es ist eine so ofte wiederholte Wahrheit, daß ihre Gedichte mich auf das äußerste vergnügen und erbauen, daß es Ihnen schon unschmakhaft vorkommen muß immer daßelbe zu hören. Aber dieses kann ich Ihnen nicht unbezeüget laßen, daß die Stelle, die Sie dem Andenken unsres ehemals so zärtlich geliebten Kindes gegönnet haben, so wol in mir, als in der Freündin meines Herzens ungewöhnliche Regungen der Zärtlichkeit erwekt hat. Ich sah meine beste Freündin Thränen vergießen, wobey mir zweifelhaft schien, ob sie ihrem verstorbenen Kind oder ihrem lebenden großmüthigen Freünd gewiedmet wären, der sie durch den Nebel einer so weiten Entfernung nicht aus dem Gesichte verliehret. Sie hat mir aufgetragen Ihnen alle mögliche Versicherungen der lebhaftesten Freündschaft und der vollkommensten Hochachtung zu geben. Diese können Sie um so viel zuversichtlicher annehmen, da sie aus dem reinesten und aufrichtigsten Herzen Herkommen, von einem Herzen, das so keinem andern weicht, es sey denn dem vollkommenen Herzen der Chava.

Sollten Ihnen nicht die dortigen Eyferer eine Kezerey zur Last legen, daß Sie die Zilla mit einer so leichten Straffe laßen davon kommen. Sagen nicht die orthodoxen die Sünde könne nicht anders, als durch einen Mittler versöhnt werden? Es sollte mich freüen, wenn ich wüßte, daß man die Aussprüche ihres Catechismus könnte in Zweifel ziehen, ohne einer Kezerey beschuldiget zu werden. Vielleicht hat dieses Sie bewogen die deütschen Littern und einen falschen Verleger anzunehmen. Es läßt anfänglich, als wenn ihr Satan listiger gewesen, als der so die Eva verführt hat. Aber nach einer kurzen Überlegung behalt dieser doch den Vorzug, oder scheinet wenigstens seine Reizung eine schöne Frucht zu eßen mehr nach der natürlichen Rosigkeit und Einfallt der Eva ausgedacht zu haben. Doch gestehe ich, daß in dem Charakter der Zilla meisterhafte Züge sind.

Ich habe Ihnen schon mehr, wie einmal gesagt, daß ich an solchen Gedichten unersättlich bin, und also kann ich auch ohne Schwäche Ihnen mein Verlangen Entdeken, ein solches Gedicht zusehen, darin die Menschenliebe eben so durchgehends und so erhaben herrscht, als die Gottesfurcht in den ihrigen herrschet. Sie haben ihr möglichstes gethan, den Menschen das erste und größte Gesez der Religion einzuschärffen und angenehm zu machen, und jezo wünschte ich, daß dieses auch dem Zweyten, das dem ersten in Absicht auf die Nothwendigkeit gleich kommt, geschähe. Vielleicht hat der Himmel Wielanden dazu ausersehen. Ich gestehe es, daß mir ofte grauet zu sehen, wie weit die Menschen noch entfernt sind, Brüder, warme Freünde aller andern zu seyn, und wie wenig sie noch die Wahrheit wißen, die eine der allerersten ist, daß die Glükseeligkeit nur von der allerbesten und liebreichsten Verbindung der Geschöpfe untereinander herkommen kann. Sie haben mir angewöhnt die Poeten als die Lehrer und Profeten der Menschen anzusehen, und so können Sie mich nicht tadeln, daß ich so viel von ihnen fodere. Es liegt den Philosophen ob, die Wahrheit an den Tag zu bringen, den Dichtern aber sie auszubreiten und würksam zu machen.

Ich habe die Ankündigung der Dunciade mit großem Vergnügen gelesen. Wenn der größte Theil der Deütschen die Augen noch nicht aufthut, so habe ich die Hoffnung verlohren Deütschland klug zu sehen. Hr. Zachariä ist noch zu rechter Zeit mit seinen Klagen Germaniens gekommen, um die Schande von Deütschland abzulähnen, daß es überall dem Moloch dienet, oder sich für ihm fürchtet.

Hr. Leßing hat mich in dem lezten halben Jahre zu verschiedenen malen besucht. Wenn er noch nicht ganz ist, wie Sie ihn wünschen, so ist seine Jugend, seine Umstände und sein Vaterland Schuld daran. Jezo geht er nach Leipzig um da Hofmeister von einem Jungen Edelman zu werden. Durch ihn habe ich einen Ebreischen Jüngling kennen gelernt; einen stark denkenden Kopf. Er hat die Briefe über die Empfindungen geschrieben, die ich Ihnen zuschike. Dieser beschnittene soll mir Ramlern, den ich sehr selten sehe, zehnfach ersezen. Aber dieses Glük ist mit einem kleinen Unglük verbunden. Der Bauzner Nauman, der hier Informator der Kinder eines Reichen Kauffmanns ist, hat sich einfallen laßen einige Höflichkeiten, die ich ihm bey seinen ersten Besuchen erwiesen, als so viel Zeichen einer Vertrauten Freündschaft anzunehmen. Nun stört er mich ofte in meiner Ruhe und will mich mit Gewallt zu seinem Aristarch machen. Er hat aber jezo die Poesie gegen die Prosa vertauscht. Es ist ein kleiner ehrlicher Mensch, in einem Alter von mehr als 40 Jahren, so leichte und so flüchtig, als ein Schmetterling. Von einem überaus glüklichen Gedächtnis und einigem moralischen Geschmak. In seiner Meinung ein großer Menschen Freünd, voll von Anschlägen zur Glükseeligkeit der menschlichen Gesellschaft, und bey einer großen Meinung von der Wichtigkeit seiner Anschläge, sehr bescheiden und demüthig.

Der Hr. von Hagedorn ist Ihnen für ihr Andenken und für die Versicherung, die Sie ihm durch mich wegen der Briefschaften seines verstorbenen Bruders gegeben sehr verbunden. Beyliegendes Werken soll ich Ihnen in seinem Nahmen zuschiken. Er hat eine schöne Samlung von Schildereyen, die er verkauffen will, vermuthlich noch einige Schulden seines verstorbenen Bruders zu bezahlen.

Ihre Anmerkungen über die Hermannias habe ich Voßen zum Druk gegeben. Weil sich aber kein Sezer fand, der sie lesen konnte, und kein Copiste, der sie abschreiben wollte, so hat es sich damit bis gegen die Meße verzogen, und nun ist er nach Leipzig ohne, daß ich weiß, ob der Druk fertig ist oder nicht.

In zwey Tagen reißt Hr. Escher von hier, er hatte sich mir erst in den lezten Monaten entdekt, und sich (wie wol zu späthe) Mühe gegeben über die wichtigsten Artikel der Philosophie gründliche Einsichten zu haben. Er ist, wegen der Uneinigkeit seiner Verwandten in Ansehung seiner in großer Verlegenheit, indem er nicht weiß, an wen er sich halten soll. Er hält viel auf Hrn. Ott seinen Stiefvater, aber wenig auf deßen – Ich bedaure ihn.

Die Conditionen auf welche Haller nach Halle kommen wollte (Engagement auf 10 Jahr; 3000 Rthlr.. Besoldung; die Würde des Canzlers; die Curatel der Universitäten; Freyheit alle Jahr zu reisen p) sind dem König zu groß vorgekommen. Also wird nichts aus der Sache. Man sagt für gewiß, daß der Meßias ganz complet auf Umkosten des Königs von Dennemark prächtig gedrukt wird, und daß der Dichter den Profit von dem Verkauff haben soll.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – E: Körte 1804, S. 251–254.

Einschluss und mit gleicher Sendung

Schrift (vermutlich Lettre à un Amateur de la Peinture) von Christian Ludwig von Hagedorn.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Bodmers auf der ersten Seite: »tacetur«. – Vermerk Bodmers auf der letzten Seite: »novemb. 55«.

Eigenhändige Korrekturen

Littern und einen
Littern und die einen

Stellenkommentar

Stelle, die Sie dem Andenken
Vgl. die Verse im dritten Gesang von Bodmers Die gefallene Zilla, 1755, S. 44.
Chava
Figur in Bodmers Die gefallene Zilla.
einen Ebreischen Jüngling
Moses Mendelssohn.
Beyliegendes Werken
Vermutlich Christian Ludwig von Hagedorns erste kunsttheoretische, 1755 anonym erschienene Schrift Lettre à un Amateur de la Peinture.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann