Brief vom 16. Februar 1751, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 16. Februar 1751

den 16 Febr.

Ich schike Ihnen hier mein werther Freünd, einige Anmerkungen, die ich über den Noah gemacht habe. Brauchen Sie dieselbe oder nicht, dies steht bey Ihnen, ich gebe sie nicht für untrüglich aus, es sind blos meine Emfindungen.

VI Gesang. p. 2. Mehr Myriaden als iezund) Dieses ist gewiß nich wahr, denn das Land hätte so viel nicht gefaßt. Elam und Aram und Aßur können doch nicht größer seyn, als ganz China. Nun würde dieses Land zu seinen Einwohnern, die Eüropeer gewiß nicht mehr faßen.

p. 3. Die drey ersten Verse enthalten einen mir verdächtigen Wiz.

p. 9. Hundert Schritte ist gar zu determinirt, etliche wär beßer.

p. 10. Dort kann der Man) Ich stoße mich ein wenig, nicht an der Sache, sondern am Ausdruk, der zu lang und zu ausgedähnt ist. Können sie keinen Ausdruk finden, der so kurz ist als dieser. Dort ist die polyandrie erlaubt. Einen Man nehmen oder viele Männer nehmen sind Ausdrüke, die ich in der Poesie nicht leiden könnte.

p. 26. den sie am Rüken des Schiffs) Sie müßen außerhalb des Schiffs gewesen seyn, sonst hat dieser so gemachte Wind das Schiff nicht bewegen können.

p. 28. wo die Südsee p) Dieses hat bey der Umdrähung der Erde keinen Sinn, denn die Südsee schaut täglich successive nach allen 12 Zeichen auf.

VII Gesang. pag. 4. Ich stoße mich ein wenig an Chams Anmerkungen, sein Charakter ist mir ein wenig verhaßt. Mich dünkt, daß die Satyre hier gar nicht wol steht.

p. 16. der vielleicht nach mir zielte) Dieses steht in dem Mund der Milca nicht gut. Sie hat gereinigte Begriffe von der Fürsehung und weiß, daß der Todt einmal den Unrechten trifft.

p. 22. Die Thierchen im Zahnschleim sind mir in einer dogmatischen Schrifft schon beynahe zu ekelhafft, hier kann ich sie gar nicht vertragen. Überhaupt gefällt mir das allgemeine, sie sahen alles belebt, oder so etwas beßer als besondre Exempel. Wenigstens würde ein einziges genug seyn, oder man könnte sagen, sie sehen, was Loewenhoek p. zuerst zusehen geglaubt, denn weiß ein jeder was man meint.

VIII. Ges. p. 8. Und sie durchschneiden die meisten) Wozu dient eine so gar particulare Wißenschafft. Sipha und Cham und Sem und Japhet sind ein wenig pedantisch. Sie lehren gar zu ofte und auf die Art beynahe, wie man auf dem Catheder lehrt.

p. 10. diesen Mit Vorrath von Feüer) Ist zweydeütig, man könnte denken, sie führen würkliches Feüer mit, da sie doch nur Nahrung zum Feüer bringen können.

p. 19. Unverkürzt durch sein durchsichtig Geschleppe) Ich kann nicht errathen, was sie durch unverkürzt hier wollen verstanden haben.

IX Ges. p. 5. dieses Gleichniß ist zu lang und zu weit hergeholt.

p. 6. Kränzgen) Klingt für ein hiesiges Ohr ein wenig poßierlich. Kranz wäre gut.

p. 9. In Balsam getunkt) dieses ist wieder den Charakter des Todes, dem alle Menschen gleich sind. Er wird insgemein als ein Feind der Menschen abgemalt, also tunkt er seine Pfeile nicht in Balsam, es sey denn, daß es ihm von einer höhern Macht befohlen wird.

p. 14. Blut gefärbte Thränen) sind hier höchst unwahrscheinlich. Diese kann nur die Angst erpreßen, die hier nicht statt hat.

p. 21. Von dieser Rede des Japhets halte ich, daß sie zu dogmatisch ist, und ich wollte kaum in einem dogmatischen Buche soviel aufeinander häuffen. Ich habe schon gesagt, daß mir ihre Helden etwas pedantisch vorkommen. Übrigens ist es eine große Ehre für mich, daß Sie dem Japhet meine Anmerkungen in den Mund legen.

p. 24. Ihre zerschmetternde Macht.) Dieses kann gar nicht angehen. Denn 1. Können nur Dünste, und keine solide Waßersäule aus dem Cometen in die Erdathmospher kommen, diese aber können nicht anders als durch Regen auf die Erde fallen und deßwegen keine zerschmetternde Gewallt haben. 2. Wenn man auch sezte, daß es eine Waßersäule gewesen, so muß sie in Regen zerfliegen, ehe sie auf die Erde kömmt. Diese ganze Vorstellung kann ohne Schaden weg bleiben. Die Dünste allein geben ihnen so viel Waßer, als sie nöthig haben, alles zu ersäuffen. 2. Kann die Erde ohne den eingebildeten Fall der Waßer genug erschüttert werden. Ihre theile werden von dem Cometen mit ungleicher Krafft angezogen, daher kann sie ihre Figur ändern, daher wird sie im innersten erschüttert, daher können Berge und Thäler entstehen und alles was sie wollen. 13. Es wäre gut wenn Sie erinnerten, daß der Comet im Vollmond der Erde am nächsten gewesen. Sie könnten aus dieser nothwendigen Erinnerung noch den Vortheil ziehen, daß der VolleMond bey seinem Aufgang den mit schreklichen Dünsten angefüllten Lufftkreiß, mit den fürchterlichsten Geschichten bemalt.

p. 26. Vögel und Thiere schrien abscheülich.) Hier habe ich ein ausführliches Gemälde von dem Jammer der Thiere erwartet. Hier könnten sie ohne ins dogmatische zu fallen Vieles von der Natur der Thiere sagen und wie jedes sich beym Schreken zeiget. Der Fuchs kriecht in sein Loch und stekt den Kopf schüchtern heraus, die Schaaffe drengen sich dicht ineinander, die Kühe brüllen und lauffen davon pp.

p. 26 und 27. Ich habe schon erinnert, daß das Herabstürzen einer Waßersäule nicht angehen kann.

27. Die Eyförmige Figur der Erde streitet wieder die Beobachtungen. Sie ist platt wie ein Apfel der breiter ist, als Hoch.

Hier habe ich auch einige Völker, denen ich aus dem zweyten Gesang gewogen worden in der Sundfluth erwartet. Die art wie die Einwohner von Masis p. sich in der Sündfluth geberdet wäre mir eine weit angenehmere Geschichte, als der Roman vom Abbadonan, die mich gar nichts angeht. Sie ist in der That zu frömde um so viel Plaz einzunehmen.

X. Ges. p. 12. Horizontalisch) Soll vermuthlich heißen perpendicular oder senkelrecht. Im herunterstürzen sollte man billig auch gewalltiges Krachen und schlagen hören, und hier hätte ich pour comble d’horreur auch den ersten Donner kommen laßen, der ohne dem wegen der vielen Cometen Dünste beynahe nothwendig wird.

p. 16. Es wäre schön wenn die Einwohner der Thamista von ihren Altanen schon Todte Menschen und Thiere aus andern Welttheilen schwimmen sähen, dies würde ihr Schreken vermehren. Ein paar könnten auch besonders genennt werden, die man aus dem 2 Gesang kennt.

p. 23. In der Rede des Chams ist mir alles, was nach den Worten, über der Erde soll stehen zu sehr dogmatisch. Ich muß es allemal überschlagen, wenn ich hieher komme.

XII. Die Gemälde des Raphaels gefallen mir gar nicht. Sie enthalten nicht die Erlösung sondern einige Neben Umstände davon, die die Hauptsache gar nichts angehen. Ich ließ es noch gelten, wenn die Gebuhrt des Meßias, sein Tod, seine Auferstehung und Himmelfahrt vorgestellt würde. Aber was gehen den Noah die Cidlis und Lazarus und überhaupt die Jünger Christi an? Wenn sie den Meßias nicht gelesen hätten, so hätten sie den Raphael weit angenehmere Stüke malen laßen.

p. 27. Der Orion steht nicht im Norden, sondern Mitten im Himmel. Anstatt deßen könnten Sie sagen, er sah das siebengestirn vom Morgen nach Norden gerüket.

XIII. 15. Ich kann in Chams seegen seine Ausrechnung nicht vertragen. Sie könnten ihn sagen laßen. Ich werde noch sehen, wie ihr zu Hundert tausenden gewachsen. Dies ist möglich, wenn Cham noch über 200 Jahr lebt. Denn wenn man sezt, daß 25 Jahre nach der Sündfluth 10 Paare sich heyrathen können welches wol möglich und ferner annihmt, daß sich damals die Menschen alle Jahr um den zwanzigsten Theil vermehrt haben, so sind nach hundert Jahren schon 2636 und nach 200 Jahren schon 347 440 Menschen da gewesen.

p. 20. Der Torpedo lähmt zwahr einigermaßen. Versteinert ist beynahe zu poetisch.

ib. Asbest brennt nicht. Wol aber Naphta, dergleichen man in demselben Land viel antrifft.

p. 21. Ich sagte kein Wörtchen.) Wird wol niemand in einer pathetischen Rede sagen. Die diminutiva stehen wol überhaupt in der erhobenen Poesie nicht gut.

Hier haben Sie mein werthester, meine Anmerkungen über die Stellen, die mir nicht gefallen haben. Von denen die mir gefallen und die mich enzükt haben schweige ich. Ich werde nun das Mst. auch Hrn. Saken geben.

Sie melden mir gar nicht, ob Sie willens sind das Werk bald herauszugeben. Ich habe genug Menschenliebe zu wünschen, daß es je eher je lieber geschehe. Doch wünschte ich auch, daß die feile noch ein paar mal darüber ginge. Ich weiß nicht, ob sie die prosaischen Stellen mit dem Homer genugsam Vertheidigen. Einmal man hat sie schon lange nicht mehr in der Poesie leiden wollen. Den Wolklang des Verses wünsche ich nur so gut, daß man keiner Silbe Gewalt thun, oder den Vers zweymal lesen müße um ihn nach Füßen zulesen.

Ich bin jezo mit Academischen Arbeiten sehr beschäfftiget. Es sind uns 70 Piecen eingekommen, die den Preiß haben wollen, die müßen alle gelesen seyn. Einige sind von etlichen Alphabeten. Das meiste ist Non-Sense. Neben dieser Arbeit habe ich eigene. Der Hr. v. Maupertuis hat mich in die Metaphysische Claße gethan. Jezo arbeite ich an einer Theorie der angenehmen Empfindungen, welche zugleich die Theorie des schönen in sich begreiffen wird. Davon habe ich schon 2 Memoires für die Acad. fertig.

Voltaire eilt mit starken Schritten der Verachtung des hiesigen publici entgegen, oder er ist viel mehr schon darin und ringet sich daraus loszuschwingen, noch ärger als der Comet mit der Erde gerungen hat. Er wird ihr aber nicht entgehen. Die Critischen Nachrichten werde Ihnen auf die Ostermeße schiken. Empfehlen Sie mich Hrn. Breit. und Heß.

Ich verbleibe mit zärtlichster Hochachtung

ihr ergebenster
Dr. Sulzer.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13a. – E: Anonym Über Friedrich den Großen I 1807, S. 351 f. (Auszug).

Vermerke und Zusätze

Vermerk Bodmers hinter dem Datum: »51.« – Unterstreichungen einer weiteren Hand.

Lesarten

allgemeine
allgemeiner
Jahr
Jahre

Eigenhändige Korrekturen

Berge und Thäler entstehen
Berge und Thäler sich ändern entstehen
Gewalt thun, oder den Vers
Gewalt thun, müße oder den Vers

Stellenkommentar

Emfindungen
Verschreibung Sulzers, gemeint sind »Empfindungen«.
was Loewenhoek p. zuerst zusehen geglaubt
Antoni von Leeuwenhoeks mikroskopische Beobachtung von Bakterien in den Zwischenräumen der Zähne. Leeuwenhoek kam zu dem Ergebnis, dass die weiße Materie zwischen den Zähnen (Sulzer nennt es »Zahnschleim«) voller kleiner Tiere sei. Sulzer, der diesem Phanömonen bereits 1740 und auch später noch nachging und eigens ein Mikroskop dafür entwickelte, kommt u. a. in seinen Moralischen Betrachtungen (1745, S. 2–5) darauf zu sprechen. Vgl. SGS, Bd. 5.
pour comble d’horreur
Übers.: »zum größten Entsetzen«.
diminutiva
Übers.: »Verkleinerungen«.
mit Academischen Arbeiten
Gemeint sind die Einsendungen zur philosophischen Preisfrage der Akademie. Die auf gesellschaftstheoretische Aspekte zielende und in der Tradition von Leibniz und Wolff stehende Preisfrage des Jahres 1751 hatte die Pflichten, die die glücklichen und unglücklichen Begegenheiten der Welt auftragen, zum Thema. Vgl. Buschmann Philosophische Preisfragen und Preisschriften der Akademie 1987, S. 784. Prämiert wurde Abraham Gotthelf Kästners Dissertation sur le devoirs. Kästner hatte im Jahr 1750 auch Bodmers Noah im Hamburgischen Correspondenten (Nr. 16) rezensiert. Vgl. auch die Preisschrift betreffende Briefe Sulzers an Kästner vom 12. Juni, 24. Juli und 5. Oktober 1751 (Universitätsbibliothek Leipzig, Slg. Kestner/II/A/IV/2204/Nr. 1, Mappe 2204, Blatt Nr. 1–3.)
Theorie der angenehmen Empfindungen
Sulzer hielt zwischen März 1751 und Juni 1752 an der Berliner Akademie vier Vorträge mit dem Titel Recherches sur l'origine des sentiments agréables et désagréables, die in vier Teilen in den Schriften der Akademie 1753 und 1754 veröffentlicht und später in einer Buchauflage zusammengefasst wurden, die 1767 ohne Angabe des Ortes unter dem Titel Nouvelle Théorie des Plaisirs erschien. Ergänzt wurde der Band durch den 1754 gehaltenen Akademievortrag Essai sur le bonheur des êtres intelligens, der zwei Jahre darauf in den Jahrbüchern der Berliner Akademie veröffentlicht wurde. Dazwischen erschienen 1762 die Recherches sur l'origine des sentiments agréables et désagréables als Theorie der angenehmen und unangenehmen Empfindungen erstmals in deutscher Übersetzung. Vgl. SGS, Bd. 2. – Lattanzi Sulzers Begriff der »angenehmen Empfindung« 2018.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann