Brief vom 27. August 1777, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 27. August 1777

den 27. August 1777.

Sie leben mein liebster und werfen blicke voll gefühl auf diese Zeilen in welchen sie den guten Menschen leben sehen der ein viertel länger als sie gelebt hat. Die achtzigste Ernte die ich lebte ist geschnitten. Doch kann ich ihnen mein leben allein durch buchstaben beweisen, und sie sind so gütig daß sie meine briefe für gute werke ansehen. Ich bin übel dran, wenn sie den Appetit für geistige speisen verlohren haben. Niedlicher riecht mein Gesang als meine Küche. Gewiß doch haben sie noch mehr geschmak an Hexametern als an ortolans. Wenn die andere Eßlust Ihnen wieder kommt, so sollen sie nicht nur den Vater der Glaubigen haben, der sein kind statt eines schafes schlachten will, sondern Macaria, die sich freywillig für das leben ihrer brüder opfert, sie sollen eine μνηστοροφονίαν haben, die ohne maschinerie ist.

In disen warmen tagen trugen meine Füsse mich täglich an die Limmat zu Steinbrüchel, Bürkli, Hottinger, Meister, Tobler, die zusammengenommen mir izt Breitinger sind. In dem deutschen Musäum werden diese guten leute, und mit ihnen Geßner, als erklärte Feinde Lavaters ausgezeichnet; ich bin so unbedeutend in meinem Zahnlosen Alter des Löwen daß man mich nicht würdigt mit zu ihnen zu nennen. Lavater hat eine Erklärung seiner Erklärungen unter der presse in welcher er betheuert daß er seine schönsten tage Spalding danke, die er bey ihm gelebt habe, aber zugleich gewissenshalber bezeuget daß er in Wesentlichen Artikeln der Religion von ihm abgehe. Ich hoffe doch daß er Spalding nicht zu den Antichristen zähle, welche den antichristlichen synodum vor drey jahren in Magdeburg gehalten.

Der Graf von Falkenstein hat unsern Zürcherschen boden nur am Rheinfall betreten. Er gab uns nicht Gelegenheit Ihm unser admiralschiff zu zeigen. Die Basler haben sich gegen ihn mit ihren 30. millionaires groß gemacht. In Bern machten ihn die kleinlichen Magnaten mit ihrer pomposen Aufwartung mißmüthig; die Damen verfolgten Ihn bis in sein schlafgemach. Er wäre zu Micheli gegangen, wenn nicht 20. carossen da gestanden wären ihn zu escortiren. Voltairen hat er den stoß ins grab gegeben; wird dieser nicht epigrames und couplets mit blizstralen beschwärzt auf ihn schiessen? Hallern hat er das sterbebette versüßt. Lavater ging bis Waldhut ihn zu sehen. Er sprach ihm von seiner physiognomik und seinen schweizer Liedern. ⟨Ich⟩ hätte ihn eher von René de Lorraine unterhalten ⟨denunser Waldman von Murten zum Ritter geschlagen, und dem die Eidsgenossen sein land wider erobert haben. Nichts von Patriarchiaden, von Hexametern! Der graf glaubte daß Geßner sein brod mit Zeichnen gewinnen müste. Der Fürst von Constanz wollt ihm die hand bieten, er bot sie einem Bootsknecht und sprang aus dem Schiffe.

Immer machen aufschiessende patrioten unserm Magistrat mühe; sie hielten zusammenkünfte und schmiedeten memoriale, und liessen dise unterzeichnen. Die geheimen Räthe weigerten sich sie anzunehmen. Sie wurden noch kühner und wenn wir nicht sanft mit ihnen fahren, so drohen sie feuer zu fangen. Sehen sie, an welchen geschichten mein altes leben noch hängt. Und so bin ich noch de hoc mundo. Wenn wir sterben was ist es anders als was Lenclos sagte, que nous laisserons des mourans.

Sie mein lieber thun meinen briefen mehr Ehre an als ich bitten durfte, da sie solche Ihren Enkeln empfehlen. Sie verbinden mich daß sie noch leben wollen meinen Abraham zu sehn; er kann noch auf die Michaelismesse kommen. Breitinger starb an dem Tag da ich zu ihm gehen wollte, ihn ihm zu lesen.

Montags sind Louis XVI ein Eidsgenosse, und die Eidsgenossen sind roialisten geworden. –

Ihr alter diener.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 20.12.

Anschrift

Pour Monsr. le professeur Soulzer.

Eigenhändige Korrekturen

Niedlicher riecht mein Gesang
Niedlicher istriecht⌉ mein Gesang

Stellenkommentar

μνηστοροφονίαν
μνηστηρο-φονία: Mnesterophonia (Freiermord), Titel des 22. Buches der Odyssee, das den Kampf des Odysseus gegen die Freier schildert.
In dem deutschen Musäum
Vgl. den mit »B.« unterzeichneten Brief aus Basel, den 20sten Aug. 1776 im Deutschen Museum, 1777, Bd. 1, S. 87–89. Hier wurden Geßner, Usteri, Steinbrüchel, Hottinger und Hirzel als »Anti-Lavaterianer« (S. 88) bezeichnet.
Lavater hat eine Erklärung
Der Beitrag Herrn Etatsrat Sturz Erklärung über die Physiognomik, mit Anmerkungen von Johann Caspar Lavater erschien im Deutschen Museum, 1777, Bd. 1, S. 399–408.
Graf von Falkenstein
Joseph II. reiste unter diesem Namen. Zu seinem Aufenthalt in der Schweiz vgl. Meyer Angst der Schweizer Aristokraten 1999, S. 175–304.
Voltairen hat er den stoß ins grab gegeben
Voltaire, der fest mit einem Besuch des Kaisers gerechnet hatte, wurde von Joseph II. nicht aufgesucht, obwohl dieser in Ferney war. Vgl. Meyer Angst der Schweizer Aristokraten 1999, S. 174 f. Bodmer ging auch in Briefen an Johann Heinrich Schinz mehrfach auf dieses »Nichtereignis« ein. (ebd. S. 174).
Hallern hat er das sterbebette versüßt
Zu dem 40-minütigen Besuch des Kaisers bei Haller siehe Anthologische Beschreibung der Reise des Herrn Grafen von Falkenstein nach Frankreich 1777, 1778, S. 119 f. – Meyer Angst der Schweizer Aristokraten 1999, S. 198–211.
Waldhut
Gemeint ist Waldshut. Vgl. dazu auch Lavaters Die Kaÿserliche Woche oder Tagebuch vom 20.--26. Julius 1777 (ZB, FA Lav. Ms 18). – Meyer Angst der Schweizer Aristokraten 1999, S. 243–263.
unser Waldman von Murten zum Ritter geschlagen
Der zur Zeit der Reformation wirkende Zürcher Bürgermeister und Politiker Johann Waldmann hatte sich für René II., Herzog von Lothringen, eingesetzt und diesen militärisch gegen Karl den Kühnen in der Schlacht von Murten 1476 unterstützt.
que nous laisserons des mourans
Der berühmt gewordene Spruch der Anne de Lenclos, gen. Ninon, auf dem Sterbebett lautete: »Ah, je ne laisse au monde que des mourans«. Übers.: »Ach, ich lasse in der Welt nur Sterbende hinter mir.«
Montags
25. August 1777.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann