Brief vom 15. Oktober 1771, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 15. Oktober 1771

den 15. Octob. 1771.

Mein liebster Sulzer.

Ich habe Ihnen manchen Züricher zugeschikt, von welchem ich Hoffnungen gefasset hatte, die mich betrogen. Der Herr Ott, der Ihnen die Ehre hat diese zeilen zu übergeben, hat sich durch sein gutes gemüth und seinen natürlichen bon sens über allen Verdacht weggesezet daß er meine Erwartungen hintergehen werde. Ich erwarte an ihm einen geraden, rechtschaffenen, woldenkenden mann. Sein Hr. Vater ist nicht der plenipotentiaire, der uns in Wien Ramsen gekauft hat, das zuvor unser war. Er ist Zunftmeister und ein reicher Fabricant. –

Ich sehe mit Verlangen Ihrem Hn neveu entgegen, und werde camus seyn, wenn er mir nicht Bücher und Briefe von Ihnen bringt. Izt wird die Jgfr. Sulzerinn wol die Frau Gräfin seyn! Ich höre sie seyn in Dreßden gewesen. Wenn sie acht tage nach Winterthur kommen könnten so würden sie ein seltsames Spiel der Regierung sehen. Stof zu lachen, und stof zu trauern! Wir erwarten in wenigen Tagen den vorigen Schuldheiß, bey uns in Zürch. Er ist noch nicht mit seinen leuten versöhnt, und sie sind es noch weniger mit ihm.

Hr. Diac. Waser ist hier. Er ist wieder ganz erlegen. Es ist traurig ihn zu sehen. Es ist keine freude in ihm. Doch ist er am Leibe äusserlich gut. Aber er mag nichts thun. Lavater ist mehr polypragmon als jemals. Er drukt predigten die Declamationen von Gottes Blut sind; und Cantaten mit Duetti:

Der Mann: Die Kirche Gottes bist du mir!
Und Christi Bildniß bin ich dir.
Die Frau: Das Bildniß Christi bist du mir
Und Gottes Kirche bin ich dir.

Des Professors Schlözers von Göttingen Ausfall auf Basedow hat Lavatern und Iseli bange gemacht. Man sagt sie arbeiten an Vindiciis.

Ein gewisser Brechter, diaconus in einem kleinen städtgen am Rhein, hat Anmerkungen über das Elementar und das Methodenbuch geschrieben, die hier unter der Presse sind. Er macht Basedow grosse Complimente, und corrigirt ihn beständig. Er hält mehr auf Rousseau als andre deutsche schulmeister; aber er thut ihm auch etliche mal unrecht, und triumphirt über das Unrecht, das er ihm gethan hat.

Wir haben hier etliche wakere deutsche gehabt, die uns besucht haben. Klokeburg einen Hannoveraner; Langer ein Legationsrath, der mit dem jungen Patkul reiset; den Grafen von Hoym und den Baron von Löwen, ⟨SachsenLeuchsenring einen Darmstädtischen Hofrath, des Prinzen Hofmeister. Alle diese herren sind mit der Schweiz und besonders mit Zürch so wol zufrieden, daß sie gern bey uns leben wollten. Man hat uns erzählt Klopstok übe sich mit der Frau eines Hamburgischen Kaufmanns in der platonischen Liebe. Er soll in Kopenhagen eine reiche partey haben heurathen wollen, die ihm aber nicht Gelegenheit gab der Meta ungetreu zu werden, wie er der Fanny ungetreu geworden war.

Unsere Leute hier sind so klug gewesen, daß sie Wielands Amadis ausgezischet haben. Es wird Reichen verleiden Ihm Idris und Amadise zu verlegen.

Man sagt Hr. Haller schreibe das Ideal einer Republik. Seine Gesundheit nimmt ab; er soll geschwollene Beine haben. Man sagt Voltaire habe ein Glaubensbekenntniß gemachet, in welchem er bezeuget, er glaube an Gott, und glaube daß er ihn nicht aus Meel gemachet habe.

Man sagt noch viel; und bey Ihnen ohne Zweifel noch mehr als bey uns.

Wenn es seyn kan, so wünschte ich sehr daß sie mir das gedicht von dem Grafen von Gleichen durch Hn Ott wieder zurükschiketen. Es verdrießt mich daß ich Ihnen dises stük habe zuschiken dürfen.

Der Antistes Oswald in Schafhausen hat eine Dissertation gedrukt zu beweisen, daß die Socinianer der AntiChrist seyn. Er selbst ist verdächtig, daß er etwas Herrnhutisches im Kopf habe. Das seltsamste ist daß er die Dissertation dem Doctor Hirzel dedicirt hat.

Ich höre, Jacobi habe ein Gedicht von den Ersten Menschen geschrieben, in welchem er sie von Amorinen bedienen läßt, wie Milton Ihnen Engel zur Beschüzung gegeben. Ich sehe doch daß man Jacobi neben Gessner stellt.

Klopstok soll wieder ein trauerspiel oder einen Bardit von fünf alten scandinavischen Königen in der arbeit haben.

Soll ich fürchten mein theuerster freund, daß Sie sich an dem Ding, die Grazien im Kleinen, geärgert haben?

Der prälat von S. Blasius hatte in dem brand des Klosters sein manuscript von der KirchenMusik der Catholiken im feuer aufgehen gesehen. Er wußte nichts anders, als daß ein werk zu grund gegangen welches ihn unbeschreibliche Mühe gekostet, und nicht zu ersezen war. Zum glük hatt ers auf seiner italienischen Reise jemanden communicirt, der eine Abschrift davon genommen, und dise ist izo in den Händen des Hn prälaten.

Der Füßli, Ihr protegirter, ist immer noch in Rom, er hat uns hoffnung gemacht, daß er in kurzer zeit in Zürch seyn werde, nicht hier zu bleiben sondern in Engelland zurük zu gehen.

Ich umarme sie, und Wegelin, und Müller.

Von Geßner sind neue Idyllen unter der Presse.

Ihr Ergebenst. Dr.
Bo.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13b.

Stellenkommentar

Herr Ott
Nicht ermittelt, vielleicht der 1756 geborene Hans Heinrich Ott, jüngerer Bruder von Johann Konrad Ott, der sich 1765 bei Sulzer in Berlin aufgehalten hatte (vgl. Brief letter-bs-1765-05-14.html).
nicht der plenipotentiaire
Johann Heinrich Ott, der u. a. 1769–1770 als Vertreter Zürichs in Wien wirkte und dort über den Rückkauf des Dorfes Ramsen verhandelte. Gemeint ist hier dagegen Hans Konrad Ott, Zunftmeister und Inhaber der Firma »Joh. Conrad Ott & Sohn«.
Schlözers von Göttingen Ausfall auf Basedow
Schlözer hatte 1771 Louis René de Caradeuc de la Chalotais' Essai d'éducation nationale als Versuch über den Kinder-Unterricht übersetzt und mit einer langen Vorrede und Anmerkungen versehen, die alle gegen Basedow und seine pädagogischen Reformvorschläge gerichtet waren.
Anmerkungen über das Elementar und das Methodenbuch
J. J. Brechter, Anmerkungen über das Basedowische Elementarwerk, 1772. Vgl. zu Brechters Rousseau-Rezeption Steinhaußen Geschlechteranthropologie und Erziehung der Töchter im Philanthropismus 2008, S. 191.
etliche wakere deutsche
Johann Jakob von Patkul, Gotthelf Adolph von Hoym, Axel von Löwen, Ernst Theodor Langer und Franz Michael Leuchsenring. Mit »Klokeburg« ist Friedrich Arnold Klockenbring, ein Freund Zimmermanns, gemeint, der nach seiner Reise in die Schweiz auch mit Lavater in freundschaftlich-empfindsamem Austausch stand.
in Kopenhagen eine reiche partey haben heurathen
Klopstock heiratete erst 1791 wieder, Johanna Elisabeth von Winthem, eine Nichte Meta Mollers.
Haller schreibe das Ideal einer Republik
Vermutlich A. v. Haller, Fabius und Cato, 1774. Darin schildert Haller den Vorzug einer aristokratisch geordneten und zugleich auf bürgerlichen Tugenden basierenden Republik.
Voltaire habe ein Glaubensbekenntniß gemachet
Unklar, ob sich Bodmer hier auf das Glaubens-Bekenntnis des Herrn Franz Maria Arouet von Voltaire bezieht, das anonym in Frankfurt am Main und Leipzig 1769 erschien, oder Voltaires Reaktion darauf Abbitt an das schöne Geschlecht, und offenbare Reubekennung über seine in Religionssachen und Sittenlehre eingreiffende Schriften, als Übersetzung 1771 ebenfalls in Frankfurt am Main und Leipzig veröffentlicht.
Oswald in Schafhausen hat eine Dissertation
Johann Heinrich Oschwald, seit 1767 Antistes und Dekan in Schaffhausen. Vgl. Ders., Commentariolus de Antichristo, 1771. Oschwald wurde wegen seiner Verbindung zur Herrnhuter Brüdergemeine mehrfach angegriffen.
Jacobi habe ein Gedicht von den Ersten Menschen geschrieben
J. G. Jacobi, Die ersten Menschen. An den Herrn Canonicus Gleim, 1771.
Amorinen
Begleiterinnen des römischen Gottes Amor. Der Begriff kommt in Jacobis Gedicht nicht vor. Bodmer dürfte damit wohl die »jugendliche Schaar kleiner Engel« (ebd. S. 3) meinen.
prälat von S. Blasius
Zu Martin Gerbert, Fürstabt im Kloster St. Blasien im Schwarzwald, vgl. auch Brief letter-bs-1764-08-11.html. Bei dem erwähnten Manuskript handelt es sich wohl um De cantu et musica sacra, a prima ecclesiae aetate usque at praesens tempus, das 1774 erschien. Mit dem hier erwähnten Brand ist der Großbrand von 1768 gemeint, in dessen Folge Gerbert das Kloster wieder aufbauen und erweitern ließ. Bodmer bezog die Informationen aus dem Briefwechsel zwischen Gerbert und Breitinger.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann