Brief von Oktober 1766, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: Oktober 1766

Ich hoffe daß sie von Füßli izt besser denken, denn er schreibt mir, die sache mit ihnen sey abgethan, und es werde sich einmal weisen, ob er den Pfal im Fleisch nie umgewandt habe. Aber Sulzer zerreisse ihm die seele. Ich denke der Pfal im Fleisch seyn die Guthaten, die er von ihnen empfangen hat.

Ich kann mit ihm zufrieden seyn, erstlich weil er den Engländern den Patriarch bekannt machet,

Who stemmd alone the rushing age, alone
Dared God to know of all Mankind; him thence
Alone preservd, when man and sin the flood
All blasting wrapt in universal doom.

Hernach weil Meister von Küßnach mir aus Paris schreibt er habe ihn in seiner rükreise nach London gesprochen und sehr, sehr fleissig, gesittet und vorsichtig gefunden. Über die unterlassung ihm die Noachide zu schiken klagt er nicht so sehr als über die Elende ausführung der Zeichnungen. Er verspricht mir eine kleine Zeichnung zum Noah, zur Probe wie er mißhandelt sey. Er hat uns sehr klopstokische, sehr schwere Ode auf die geduld geschikt, und eine Englische auf Friedrich. Er arbeitet an der Übersezung des Winkelmannischen Werkes von der Kunst. Winkelmann hoffet sein neues werk, das er Italienisch schreibt, künftigen sommer zu vollenden, und den Winter hernach bey uns in Zürich zuzubringen.

Meister hat in Paris mit Esprits forts und Beauxesprits bekanntschaft, doch die Einfalt, die er in der Schweiz eingesogen hat, siegt über s. Herz und wird ihn im Frühling wieder an den Zürchersee zurükbringen. Winkelmann hat hier freunde, Füßli vom Feuermörser, [→]professor Usteri und seinen bruder, Vogel der Architekt, die alle bey ihm in Rom gewesen sind.

Es ist wahr, ich bin so public spirited als man mich seyn läßt. Ich bin es in einem land, wo Bern ihren Mitgliedern von Schinznach anbefohlen hat, daß sie nicht mehr dahin gehen sollten: und unsere Gesandten haben ihren Gesandten auf dem Tag in Frauenfeld dises suggerirt, sich den Weg zu einem gleichmässigen befehl zu bahnen. Von uns war Landolt, von Bern Erlach auf dem Tag. Es scheint die Eidsgenossen von Bern werden sich unterwerfen, hier würden wir Flammen speyen, und uns – auch unterwerfen.

In Bern [→]hat Herport ein predicant von 80. jahren ein Buch gegen den Flucheid publicirt, das vernünftigste, republikanische werk; sie haben die ganze auflage weggenommen, und den alten mann in s. haus relegirt.

Die Mediation hat einen plan gemacht, der offenbar eine neue Constitution ist. Wir haben ihn per fidem implicitam, an unsere plenipotentiaires, genehmigt; Bern und Versailles haben ihn in bedenken genommen. Man zweifelt aber nicht, daß sie ihn nicht auch gut heissen. Die Citoiens müssen ihn erst sehen, wenn er von den hohen mächten approbirt ist. Hier haben wir noch erhalten, daß er die zustimmung des Conseil general haben müße, bevor er zum Gesez werden soll; aber man wird Himmel und Erde bewegen, daß der Cons. gen. ihn annehme. Wollte er sich wiedersezen so muß er alle Entschlossenheit der Freyheitsenthusiasten haben. Einige Artikel, die von dem plan transpirirt haben, verursachen in Genf Brutische raisonnemens, den Conseil Gen. durch sich selbst zu versammeln, die alte Constitution von neuem zu beschwören und zu retabliren, den ständen und dem König zu schreiben, daß sie die Ruh hergestellt haben; die stadt durch bürgercompagnien zu bewachen, und gewalt mit gewalt abzutreiben. Sie verlassen sich auf Turin und London. Sie wollen uns zu Bundsgenossen nicht zu gesetzgebern haben. Wir sollen garands ihrer Souverainetet seyn, nicht der despotischen Absichten und prätensionen des Rathes.

Unser Director und seines gleichen sagen, die Genfer seyn nicht bey sinnen, wir, als ihre vernünftigen Freunde müssen für sie sorgen, wir müssen ihnen eine Constitution geben, ihren untergang zu verhüten, und wenn sie den Enthusiasme so hoch treiben, sie mit den Waffen nöthigen, die Wolfahrt, die wir ihnen bereiten, anzunehmen.

Sie erschreken mich mit dem gedanken, daß die Hirten der Völker ihr Amt mit dem Comtoir vertauscht haben, wiewol ich wenig Grund sehe sie zu wiederlegen. Der Gesichtspunkt des Conte Beccaria oder Veri in den pensées Sur le bonheur ist mir angenehmer: p. 60. 61. [→]que la liberté des nations est sur le point de recevoir les plus grands accroissemens; que l'on verra renaitre l'ancienne viguer d'esprit, ces guerres antiques des nations et non des princes; que l'on conduira dans les camps non des troupes des bêtes couvertes de fer, mais des armées de soldats; que les princes se trouveront reduits à l'alternative ou de devenir tributaires des nations libres, où d'abolir toute espece d'esclavage.

Ich bekenne der lauf, den die Genferische sache genommen hat, ist dieser weissagung völlig entgegen. Ich denke sie möge erfüllt werden, wenn der Camerer von Küßnach nicht mehr auf eine bessere liturgie schreit, sein Dechant nicht mehr proselyten wirbt, der Antistes nicht mehr im gesalbten styl radotirt, der Chorherr nicht mehr steine bricht, der professor nicht mehr XXX erzählt.

Dr. Hirzels Blaarer hat die presse verlassen, es sind politische Wahrheiten darinnen, Zürch ist darinn geschildert, ich wünschte daß ich dises werk auf den Flügeln einer taube zu ihnen schiken könnte.

Der stadtschreiber von Wint. ist sehr in unsers directors Gedanken von den Citoiens von Genf. Aber der streit zwischen dem Kl. und dem Großen Rath in W. ist auch der streit von Genf.

Frauenfeld hat Winterthur die Zeit her geplaget. Frauenfeld prätendirt, daß der Goldschmid von Winterthur, der s. Frau todt ⟨beten⟩ wollen, in Frauenfeld gerichtet werden müsse. Winterthur ward genöthigt Zürch um Schuz zu bitten; Zürich will ihr den Schuz geben, aber vielleicht in einem Ton, der sie erniedriget.

Beynahe hatten wir unsern Felix Heß verlohren, er hatte ein böses, langes Fieber. Zürch hätte an ihm einen denkenden Reformator verlohren, der Kräfte sammelt, sie von despotisme und barbarisme zu erretten.

Lavater hat einen panegyricum des Antistes Breitinger geschrieben, der aus superlativen besteht.

Unser Doctor Hirzel hat dem Landsfähndrich Zellweger von Trogen, Philocles neveu, eine seiner Schwester verheurathet. Sagen sie unserm Wegelin, daß Jean Schoulthess so weit von seiner Denkungsart abgewichen sey, als Wieland von Bodmers. Neulich hat einer von meinen jungen Freunden Wielanden besucht, Wieland kann nicht begreifen daß man in s. Comischen Erzälungen Unmoralisches findet. Er kam in Umstände zwischen dem Graf Stadion und Biberach zu wählen, und er zog Biberach vor. Damit verdiente er des Grafen ungunst und er erträgt sie.

Ist das Geschwäz auch zu ihnen gekommen, daß Rousseau zum Tollhausnarren geworden? Bey uns würde eine Versammlung von zweyhundert philosophen wie wir haben, per majora erkennen, daß es eine wahrheit wäre.

In Genf ist ein Boissier, der zween Tochtermänner hatte und jedem 40.000. thlr. Morgengabe gegeben, in die Rhone gesprungen, wäre Rouss. darin gesprungen so wär es ein göttlich gericht gewesen, izt ist schweres geblüt.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13b.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Sulzers am oberen Rand der ersten Seite: » Oct. oder Nov. 66«.

Eigenhändige Korrekturen

professor Usteri
professor Nüsche Usteri
ein Boissier,
Lullinein Boissier nicht Lullin

Stellenkommentar

er schreibt mir
Schreiben Johann Heinrich Füsslis aus Tours vom 9. September 1766: »Ich habe ihren Brief vom 11. Juli und den von Sulzer vom 27. Juni, in einem Briefe ex Lavater eingeschlossen, vor drei Tagen erhalten. Dieser kindische Verzug hat nur gedienet, unsers Sulzers Unruhe zu verlängern. [...] Dieser Brief von Sulzer war der erste, den ich von ihm in Frankreich erhielt. [...] Genug – die Sache ist abgetan, wie ich hoffe, und es wird sich einmal weisen, ob ich den Pfahl im Fleisch nie umgekehrt habe; aber Sulzer zerreißt mir die Seele und ist hektisch.« (Füssli Briefe 1942, S. 137 f.).
den Patriarch
Siehe die von Bodmer zitierten Verse im Brief Füsslis vom 9. September 1766 (ebd. S. 139). Zu Füsslis erstem Aufenthalt in London siehe auch seine Bemerkungen in einem Brief an Bodmer vom 7. Februar 1768, zitiert im Kommentar zu Brief letter-bs-1768-01-23.html.
Meister von Küßnach mir aus Paris schreibt
Jacques-Henri Meister an Bodmer, Paris, 24. April 1766 (ZB, Ms Bodmer 4.16): »J'ai eû le plaisir de voir plusieurs fois Mr. Fusli qui me charge de vous assurer de ses plus tendres respects – Il vous repondra bientot lui même – Il vous revere come son Maitre et vous cherit come son Pere – [...] Un home qui sait vous estimer come F. vous estime sera toujours respectable à mes yeux – Il n'y a que la vertu qui soit capable de rendre à la vertu les homages qu'elle merite – Illustre Bodmer, de tous vos disciples il en est peu qui soient aussi dignes de l'être que vôtre cher Fusli –«.
verspricht mir eine kleine Zeichnung
Füssli an Bodmer, 9. September 1766: »Ich will Ihnen, mein Vater, eine kleine Zeichnung zum Noah zur Probe senden, wie sehr ich mißhandelt bin.« (Füssli Briefe 1942, S. 139).
sehr klopstokische, sehr schwere Ode auf die geduld
J. H. Füsslis Ode an die Geduld erschien bereits 1766 im Lindauer Journal.
eine Englische auf Friedrich
Vgl. die handschriftliche Fassung der mit »1766« überschriebenen Ode God said to Fredric (ZB, Ms Bodmer 1a.30, 6, abgedr. in: Federmann Füssli 1927, S. 117).
Übersezung des Winkelmannischen Werkes von der Kunst
Füsslis Übersetzung von Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums ist nie erschienen. Das Manuskript ist vermutlich bei einem Brand im Haus seines Verlegers Johnson 1770 verbrannt.
sein neues werk
J. J. Winckelmann, Monumenti antichi inediti, 1767.
professor Usteri und seinen bruder
Leonhard und Hans Martin Usteri.
Vogel der Architekt
David Vogel, der von 1763 bis 1766 bei Winckelmann in Rom war. Vgl. Winckelmann Briefe , Bd. 2, S. 493. Zu Vogel siehe auch Kommentar zu Brief letter-bs-1764-02-04.html.
Landolt
Johann Kaspar Landolt. Zur Tagsatzung vom Juli 1766 vgl. EidA, S. 292.
von Bern Erlach
Albrecht Friedrich Reichsgraf von Erlach, Ratsmitglied und Schultheiß der Stadt Bern.
Herport [...] ein Buch gegen den Flucheid
Beat Herports Versuch über wichtige Wahrheiten zur Glückseligkeit des Menschen beschäftigt sich mit dem Missbrauch des Eides durch die Regierungen der schweizerischen Republiken. Herport verneinte darin, dass der Eid eine sakramentale Handlung sei. Das Buch wurde vom Berner Geheimen Rat verboten und Herport unter Arrest gesetzt.
in den pensées Sur le bonheur
[P. Verri], Pensées sur le bonheur, 1766. Vgl. Brief letter-bs-1766-09-09.html.
que la liberté [...] d'esclavage
Die Stelle, die Bodmer hier nur bruchstückhaft wiedergibt, findet sich auf S. 61. Bodmer hatte den Band in seiner Bibliothek (ZB, Sign. 25.42,5).
Goldschmid von Winterthur
Nicht ermittelt. Eventuell sind hier Johann Jakob Goldschmid und seine Frau Anna Barbara Künzli gemeint.
panegyricum des Antistes Breitinger
Johann Caspar Lavaters Historische Lobrede auf Johann Jacob Breitinger erschien 1771. Lavater hatte Bodmer die Rede zur Korrektur gegeben, wie aus einem Brief von ihm an Zimmermann vom 29. Oktober 1766 hervorgeht: »Bodmer hat izt meinen Breitinger. Von ihm erwarte ich wesentliche Verbeßerungen.« (FA Lav Ms 589b).
eine seiner Schwester verheurathet
Anna Hirzel heiratete den Kaufmann und Witwer Johannes Zellweger, nachdem dieser am 4. April 1765 seine erste Frau verloren hatte. Zur Freundschaft zwischen Hirzel und Johannes Zellweger, dem Neffen Laurenz Zellwegers, vgl. auch J. Zellweger an Bodmer, Trogen, 14. Juli 1766 (ZB, Ms Bodmer 11.3): »Unser Herr Doctor wird Ihnen von allem was Er hier gesehen und gehört hat ein lebhaftes und Poëtisches Gemählde machen, ich underlaße also Ihnen ein mehreres davon zu erzählen, Er wird Ihnen sagen wie Er mich zu Leibesübungen angefrischet, und wie wir kleine Spatziergänge auf die 2. stunden weit miteinander gemachet haben.«
einer von meinen jungen Freunden
Nicht ermittelt.
in die Rhone gesprungen
Jean-Jacques Boissier nahm sich im Oktober 1766 mit einem Sprung in die Rhône das Leben.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann