Brief vom 17. Dezember 1756, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 17. Dezember 1756

Zürich den 17 december 1756

Das Päkgen ist aufgehalten worden, und izt kömmt es durch eine gelegenheit, die es länger als ich wünschte auf dem wege verzögern wird. Diser aufzug hat indessen das gute gehabt daß ich zeit bekommen, die versprochenen Artikel auszuarbeiten. Auch Hr. Wieland hat einen Artikel beygeleget, und verspricht noch ein paar. Ich soll in diser stunde noch ein stück von Wielands Frühling bekommen, wenn das geschieht, so will ich ihn auch noch beylegen.

Die Geschichte von den trojanischen Helden aus den Zeiten der Minnesinger wird oft von den Minnesingern angeführt. Auch Goldast hat sie gekannt. Also wird auch in denselben auf den Roman von Flores und Blanchefleur öfters alludirt. Ich glaube die stücke sind wehrt dem untergang entrissen zu werden. Aber wir wollen dieses andern überlassen. Vielleicht kömmt die deutschen noch die Manie an, daß sie aus den Zeiten der schwäbischen nichts, gar nicht, weder schlechtes noch gutes, wollen verderben lassen. Es wäre ein unglük für dieselben Zeiten. Aber für unsre wäre es kein grösseres Übel, als daß man so ⟨freygebig⟩ ist uns die elenden Geburten der gegenwärtigen zeiten zu lifern. Ich will Ihnen auf ostern das iliadische Gedicht von Kriemhilden Rache geben.

Es würde mir doch lieb seyn, wenn sie die ersten und die lezten seiten von obigen beyden Manuscripten der königl. bibliothek für mich abschreiben liessen.

Es ist kein Manuscript von Murners Leviathan auf hiesiger bibliothek, weder auf der stiftsbibliothek noch auf der stadtbibliothek. Aber man sagt mir es sey unter disem Titel etwas gedruktes, nur wenige bogen, und handle das ding von Gold machen, ich weiß nicht ob dafür oder dawider. Ich trachte, daß ich das werk zur stelle bringen könne.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12a.

Stellenkommentar

einen Artikel beygeleget
Vermutlich stammen die Artikel »Naiv« und »Hirtengedicht« von Wieland (Starnes Wieland 1987, Bd. 1, S. 115).
Geschichte von den trojanischen Helden
Vermutlich Trojanischer Krieg des sogenannten Pseudo-Wolfram. Handschriften befanden sich in der Königlichen Bibliothek Berlin, im Kloster Gottwich (Göttweig) und in St. Gallen. Eventuell meinte Bodmer auch die Passagen zu Troja aus der Weltchronik von Hermann München (SBB, Ms. germ. fol. 1416).
Goldast hat sie gekannt
Der Schweizer Humanist Melchior Goldast gehörte zu den großen frühneuzeitlichen Kennern mittelalterlicher Handschriften, Urkunden, Inkunabeln und Codices, darunter die Manessische Liederhandschrift, die auf sein Betreiben nach Heidelberg kam und aus der er im Jahr 1604 Teile veröffentlichte.
iliadische Gedicht von Kriemhilden Rache
Eine Handschrift des Nibelungenliedes war 1755 von Jakob Hermann Obereit im Schloss Hohenems wiederentdeckt worden. Bodmer veröffentlichte 1757 Teile daraus unter dem Titel Chriemhilden Rache, und die Klage; zwey Heldengedichte aus dem schwäbischen Zeitpuncte. Vgl. Tiefenthaler Die Auffindung der Handschriften des Nibelungenliedes in Hohenems 1979.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann