Brief vom 15. April 1754, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 15. April 1754

Mein Wehrtester Herr und Freund.

Der muß gewiß ein gutes poetisches gewissen haben, der so nahe beym sechszigsten noch so viel dichten darf, und nicht das schiksal des Boileau und Corneille fürchtet. Wie wenn es conscientia erronea wäre? Ich untersuche mich öfters deßwegen, in der festen Entschliessung daß ich es aufgeben wollte, sobald ich einige starke beschuldigungen meines gewissens bemerkete. Sie mein wehrtester freund, die es so gut mit mir meinen, haben die pflicht auf sich mich zu warnen, und ich verlasse mich gewissermassen darauf. Die warnungen, die ich von Dr. Baumgarten in Halle, von Rammler, Lessing, Naumann – empfangen, thun eben keine grosse würkung auf mich, weil ich allzu klar einsehe, daß es leute von verkehrtem Verstande und noch verkehrterem Herzen sind. Ich darf doch mit dem besten rechte glauben, daß die sachen nicht ganz verwerflich seyn müssen, welche von Sulzer, Saken, Jerusalem gelobt werden. Die beyden lezten haben mir ganz liebreiche schriftliche versicherung davon gegeben, Hr. Sak in einem briefe an Hr. Wieland, Herr Jerusalem in einer zuschrift an mich selbst. Izt ambitionire ich noch den beyfall des braven Jacobi und doch darf ich sagen, daß es mir weniger um ein lob zu thun ist, als um das lob der dichtkunst, welche die Empfindungen der Tugend und der Religion, als deren sachen die uns zu menschen machen, belebet und verschönert. Also darf ich mir nichts reprochieren daß ich Ihnen, mein Freund, durch die Meßleute wieder ein gebinde gedichte geschikt habe. Es sind in zwey päkgen

der keusche Joseph und der erkannte Joseph doppelt; damit sie eines davon mit meiner schönsten Empfehlung Hrn. von Kleist übergeben. Mir ist zwar geraunet worden, daß diser wakere mann mich für einen verächter seiner Muse hält, aber er thut mir daran grosses unrecht, und das muß ihm von bösen menschen beigebracht worden seyn.

Ferner: lobgesang auf die liebe.
Erinnerungen an eine freundinn
Oden auf die geburt und die auferstehung Jesu.

Diese sind von Wieland, sowol als die briefe, die den trauerspielen beygedrukt sind. Erwarten sie künftig von ihm etwas stärkers, das philosophische gedicht von dem Menschen, wovon zween dritteil vollendet sind.

Zu obigen sachen kömmt der Daphnis, den Hr. Geßner ihnen mit seiner Empfehlung übergiebt. Es ist ein Gewebe von Naifetés und unschuldig genug. Wir haben ihm darum die schalkhafte Nacht verziehen, die er vorm jahre publicirt hat; und haben gute hoffnung, daß er seinen schönen Verstand je mehr und mehr dem Dienste der Tugend widmen werde. Er hat ein gutes Herz, das nur durch das consortium licentiae dahin gerissen worden. Es ist kein wunder daß ein solcher feiner geist sich nicht unter die sclavischen geschäfte eines tryphons hat biegen wollen.

Ich überlasse Hn diacon Waser ihnen seine verdorbenen Sitten zu schiken, und die stufen des menschlichen Alters durch welche sie veranlasset worden. Diese sind von dem Werdmüller, einem meiner jüngern Freunde, den sie aus der Historie von Klopstok kennen. Rechtschaffene Kenner müssen eine grosse Idee von hiesigen gegenden bekommen, welche zu einer Zeit solche schöne genien haben.

Hr. Schulheiß, der pfarrer von Steppfort wird ihnen wol selbst seine Übersezung von Melmots briefen überschiken. Sie ist ein wenig steif, er sollte den gratien mehr geopfert haben. Ich habe mit diesem menschen, seit den Klopstokischen Zeiten, die alte Vertraulichkeit aufgehoben. –

Von meinem neu überarbeiteten verlohrnen Paradies hat nur die Helfte mögen fertig werden, wenn es erst ganz ist so sollen sie es auch haben. Es hat ein classisches Aussehen, doch nicht zu pedantisch, cum notis variorum; und der Geschichte des schiksals dieses Gedichtes.

Der plan einer neuen Art von privat unterweisung wird Ihnen zu erkennen geben, worauf wir gefallen seyn Hn Wieland mit seinem Nutzen länger bey uns zu behalten. Wir haben einige Hoffnung daß der anschlag den Fortgang haben werde. Indessen hat Hr. Abt Jerusalem uns seiner Beföderung halber auch sehr liebreich und großmüthig vertröstet. Wieland ist gewiß ein Geschenke der vorsehung in disen tugend- und religionslosen Zeiten. Dieselbe providenz wird noch wol dafür sorgen, daß er dafür erkennt werde, und ihn an den Ort stellen, wo er am brauchbarsten ist. Aber einen prediger wird er nimmermehr abgeben, sein geist ist dazu zu universal, und er muß den menschen in einem universalern umfange nützen. Daß er nach Berlin gehen sollte, und da auf eine Gelegenheit lauern, ist zu ungewiß, und wenn es gewisser wäre, nicht nach seinem Humor.

Wie kömmt es daß man ihn nicht besser aus seinen schriften kennen lernt? Ohne zweifel daher, weil man seine Werke für blosse Arbeiten der phantasie und speculation hält. Er ist Ihnen für Ihre liebe und vorsorge – ganz verbunden.

Er hat die hochachtung und liebe unserer Breitinger, Heidegger, Blarer, – und wird überall für einen sonderbaren Menschen gehalten. Er ist mit den wakersten männern, mit Jünglingen und Mädchen bekannt, die jüngern freunde, die mir 1750 so vil verdruß macheten, und die ihn anfänglich für einen wunderlichen Menschen hielten denken izt ganz anderst von ihm, und suchen seine freundschaft. D. Doctor Theriak selber hat sich auf eine besondere Art darum bemühet.

Unser liebe Hr. Heß von Altstädten ist pfarrer zu Neftenbach worden; eine herzliche Freude für die Freunde in Winterthur. Bey disen will ich mit Hr. Wieland und andern Fr. künftigen Winter einen besuch machen, bey welchem wir mehr als einmal unsern Sulzern entbähren werden. Ich habe Hrn. Künzli seit seiner Rükkunft noch niemals gesprochen.

Der doctor Baumgarten in Halle hat sich einige zeither in s. hällischen bibliothek so unnüze gemacht, er hat die Moeurs, die Basiliade, den Esprit de Loix, die oeconomie de la vie humaine so übel gemißhandelt; gegen unsern Breitinger hat er sich so boshaft versündigt daß wir ihm eine lauge, od. ganzes Bad, über das Feuer gethan haben.

Eine moralische schrift von dem philosophischen wehrte der neuen Gedichte freuet mich weniger um des Antheils willen, den sie mir darinnen gönnen wollen, als wegen der sache selbst. Ich glaube, wer sich dieser werke annimmt, der nehme sich der Tugend selbst und der Religion an, welchen sie gewidmet sind. Gewisse wakere männer treten in disem stüke so leise, als ob es mit grosser gefahr begleitet wäre, die Dichtkunst zu bekennen, welche zur belebung der menschlichsten Empfindungen angewandt wird.

Izt habe ich den Noah ganz überarbeitet, daß er mir noch mehr gefällt. Ich habe nicht nur auf den Wolklang gesehen. Es sind etliche zusäze dazu gekommen. Überall habe ich mir ihre anmerkungen zu Nuze gemacht, selbst diejenigen, die ich für Ramlers Einfälle halte, haben mir gedienet. Denselben process habe ich mit dem kleinen gedichte Jacob und Rahel vorgenommen.

Leben sie wol m. werthester, mit ihrer Wilhelmine und ihrer Melissa, und lieben immerfort

Ihren aufrichten Fr.
und Diener
Bodmer.

Zürch den 15 April 1754

Ich nehme ein eigenes Blättgen Ihnen von einem wakern jungen Menschen zu sagen, einem Eléve Hrn. Canonicus Breitingers, einem muntern Kopfe, der in der Metaphysik, in dem Lateinischen und Griechischen, stark ist, der wol schreiben kann, vornehmlich in der geistlichen wolredenheit; der dabey eine lebhafte Action hat, von redlichem Gemüthe p. Er heißt Steinbrychel, und ist schon Minister, von 24 jahren. Es hat wenig gefehlt, daß Hr. Breitinger ihm ein professorat auf der universität Herborn erhalten hätte. In dem Winter den Hr. Klopstok bey Rahnen wie im Exilio lebte, besuchte dieser Steinbrychel, der damals noch ein student war, den poeten sehr fleissig, ward ein grosser anbeter von ihm, wie er denn izo noch sein geschworner partisan ist, wiewol er mir auch seine Hochachtung gönnt, und mit Hrn. Wieland bisweilen umgang hat, und in mein haus kömmt. Er ist fähig sich sehr weit zu poussieren; in allen Wissenschaften – Könnten sie ihm in Berlin einen Informationsposten bey einem Kaufmann, oder einem Herrn ausfinden, so würde er sich dahin begeben, und auf eine vortheilhaftere gelegenheit auf einem gymnasio lauern. Haben sie die gütigkeit, und sagen mir davon mit gelegenheit ihre gedanken.

Wenn es nicht zu späte ist, so belieben Sie mir ein stük von des verächtlichen Ramlers Schachspiel zu schiken, welches vermuthlich izt complet seyn wird. Wenn sie dieses und anders auf der Jubilate Messe Hr. Hans Jacob Hirzel zur Hauen von Zürich, oder für diesen Hrn. Gottfried und Hartmann Winkler Junior in Leipzig übergeben lassen, so wird es mir am richtigsten allemal zugefertiget werden.

Ich habe noch nicht können innen werden, wie Ramler den Verweiß der ihm in der Abhandlung vom Noah gegeben wird, aufgenommen habe. Ohne Zweifel mit der großmuth des alten Thracischen Zoilus.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12a.

Einschluss und mit gleicher Sendung

[C. M. Wieland], Plan einer neuen Art von Privat-Unterweisung.

Eigenhändige Korrekturen

wakere mann mich
wakere mann mann mich
haben einige
haben guteeinige
am brauchbarsten ist.
am brauchbarsten ⌈ist⌉.

Stellenkommentar

conscientia erronea
Übers.: »ein irrtümliches oder schlechtes Gewissen«.
Dr. Baumgarten in Halle
Siegmund Jakob Baumgarten.
liebreiche schriftliche versicherung
Die entsprechenden Briefe von Jerusalem und Sack an Wieland sind nicht überliefert (vgl. Wieland Briefwechsel 1968, Bd. 2, S. 210 f.).
philosophische gedicht von dem Menschen
[C. M. Wieland], Betrachtungen über den Menschen, 1755.
consortium licentiae
Übers.: »Bündnis in den Ausschweifungen«. Vermutlich Anspielung auf Salomon Geßners Bekanntschaft mit Klopstock. Die beiden, die sich seit einem Zusammentreffen Ende Mai 1750 in Halberstadt persönlich kannten, waren während Klopstocks Aufenthalt in Zürich allerdings nur wenige Male aufeinandergetroffen.
sclavischen geschäfte eines tryphons
Anspielung darauf, dass Salomon Geßner seine Buchhändlerlehre abgebrochen hatte.
cum notis variorum
Übers.: »mit Anmerkungen verschiedener Personen«.
plan einer neuen Art von privat unterweisung
Wielands Plan einer neuen Art von Privat-Unterweisung, die auf Initiative Bodmers in den Neuesten Sammlungen vermischter Schriften, 1754, Bd. 3, St. 1 gedruckt wurde. Vgl. dazu das Tagebuch Bodmers: »Im März ließ ich Wieland's Plan einer Privatunterweisung in meinem Kosten drucken, ihm einen Erwerb zu verschaffen.« (Bodmer Tagebuch 1891, S. 193).
seiner Beföderung halber
Vgl. dazu Wielands Brief an Jerusalem vom 14. April 1754 (Wieland Briefwechsel 1963, Bd. 1, S. 198).
doctor Baumgarten
S. J. Baumgarten, Verzeichnis einiger neuen Bücher. In: Nachrichten von einer Hallischen Bibliothek, Bd. 3, 1749, St. 15, S. 281. Siegmund Jakob Baumgarten war darin auf Georg Friedrich Meiers Verurtheilung der Baumgartischen Anmerkung zur Allgemeinen Welthistorie: eine Erzählung vom Blocksberge mitgetheilet von Hans Erlenbach d. Jüngeren (1748) eingegangen. Indem sich Meier das Pseudonym »Hans Erlenbach der Jüngere« gab, positionierte er sich ausdrücklich als Schüler Breitingers, der unter dem Pseudonym »Erlenbach« publizierte und dem Baumgarten ebenfalls einen Abschnitt widmete.
Steinbrychel
Der 1729 geborene Johann Jacob Steinbrüchel hatte bei Breitinger am Carolinum in Zürich studiert und war danach für einige Jahre Pfarrer in der schwäbischen Waldensergemeinde Pinache. 1763 wurde er Professor für Hebräisch am Collegium Humanitatis und schließlich als Nachfolger Breitingers 1776 Professor für Griechisch und biblische Hermeneutik am Carolinum.
auf der universität Herborn
Die Hohe Schule (Academia Nassauensis) im hessischem Herborn.
Verweiß
Zu Wielands Ausfällen gegen Ramler (und Johann Christoph Stockhausen) in der Abhandlung von den Schönheiten des Noah vgl. Martin Das deutsche Versepos 1993, S. 176–184.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann